Zu wenig Muße, zu wenig Aufnahmefähigkeit. So vernachlässige ich meine Teeliebhaberei. Um einen Tee kennen zu lernen, ist zeitaufwendig und der Geist muss offen sein. Letzter Zeit war kaum möglich, einen liebeswürdigen Tee zu entdecken. Schon lange wollte ich Rougui besser verstehen. Exemplare gesammelt, aber kaum etwas daran gearbeitet. Ein wahrer Faulpelz.
Ein Rougui 2005 Frühling aus Nantou. Wie alle Tees von meinem Lehrer duftet der Aufguss nach reifen Blättern. Der klare süße Duft beflügelt mit dezente Pfefferminz und Zimt. Wunderschönen geschmeidigen Abgang! Ich sehe wieder den Sonnenschein im Südtaiwan!
Als die Sonne im Zürcher Himmel auch schien, meldet sich Skype. Es war ein überraschender Besucher, den ich nie gedacht habe. Wie hat er denn geschafft, mich im Cyberspace auf diese Art ausfindig zu machen?
Ich kenn Shin seit dem ersten Schultag. Eine treue Seele, typisch Skorpion? Ich weiß nicht. Mit seiner Frau ist er bereits seit 22 Jahren zusammen. Für mich eine Verrücktheit! Doch ein bisschen beneidenswert. Er pflegte unseren Kontakt bis vor 4 Jahren, als seine Frau wieder schwanger wurde. Ich traf sie zum letzten Mal. Damals dachte ich, was für eine glückliche Familie! Dann hörte ich nicht mehr von ihm und ich bin ja ein Faulpelz…
Er hat sich verändert. Seine Stimme war rau und nachdenklich. Vier Jahren liegen nun dazwischen. Wovon sollte man denn anfangen zu erzählen? Was wollte er mir denn erzählen, so dass wir endlich wieder einander zuhören konnten? Er trank Tee, sagte er. Er war schon immer Teeliebhaber, vor allem Hochlandsoolong. In meinem Regal steht immer noch die rote schön Teekanne von ihm, die er mir vor 10 Jahren schenkte. „Alles hat sich verändert. Nicht wahr?“ fragte ich ihn einfach. „Ja, alles.“ Nach der Geburt von Tochter hat sich alles verändert.
Er lernte eine Person kennen im virtuellen Ort, aber so real, dass er glaubt, nie so real gelebt zu haben. Diese Person lehrte ihn das Leben anders zu sehen, wahrzunehmen, indem sie sich einfach in ihm verliebte. Zuerst gechattet, dann geschrieben und dann werden Gefühle gespeichert und ausgetauscht. Ganz trivial. Das kennen wir. Er erfuhr zum ersten Mal, sagte er, dass man für etwas bedingungslos tut, ohne an sich selbst denken zu müssen. Da er eine Familie hat und gebunden ist, ist der Ausgang wohl ziemlich klar. Wenn er sich nicht für diese oder für jene entscheidet, hat jeder Beteiligte nur unbefristete Schmerzen zu ertragen. Er hat sich nicht entschieden. Also hat die andere Person sich entschieden. Sie nahm einen liebvollen Abschied und überließ ihn seiner Familie. „Dann ist es wohl ein Happyend?“ „Nein. Ein eiskalter Stillstand.“ Kein Sturm, nur einfach eiskalt. Seine Frau verschließt sich in Bitterkeit. Ein Stillstand voller Verletzungen. Nur die Kinder werden immer größer, wacher und lauter. Ihn quälen moralische Vorwürfe, die er von aller Seite und von seiner Erziehung bekam. Das Leben wurde Pflicht und Schuldabzahlen. „Ich bin ein schlechter Mensch.“ glaubte er. „Auch ein schlechter Mensch hat Recht, sein Glück zu suchen!“ „Was?“ „Auch ein unmoralischer Mensch kann nichts dafür, dass der Andere sein Glück nicht sucht und holt.“ ich lachte im Skype, „Jeder muss selbst schauen, dass er zu seinem Glück findet, nicht wahr? Manchmal ist es auf Kosten des Anderen. Darum bist Du unmoralisch. Aber auch der Andere ist selbst verantwortlich. Deine Frau kann sich auch entscheiden, zu leiden oder zu lachen.“ „Das höre ich zum ersten Mal seit Jahren, dass ich auch Recht habe, auf Glück.“ Er lachte.
In chinesischer Vorstellung würde man nie Paare auseinander zu raten, weil man glaubt, schlechtes Karma zu bekommen. Karma hin und Karma her. Aufrichtig zu meiner Freundschaft sagte ich ihm, „Wenn Du glücklicher wirst, wirst Du ein glücklicher Vater. Deine Frau kannst Du nicht verändern. Du hast allerdings noch viele Jahre zu leben und Deine Kinder sollen einen glücklichen Vater erleben.“ Wiederholte ich. „Du muss glücklicher werden.“ „Würde es gehen?“ Er bemitleidete selbst. Diese dritte Person hinterließ ihm viele Fragezeichen. „Ich habe sie bestimmt verletzt. Sie hat ja keine Hoffnung mehr bei mir gesehen.“ Dass sie keine Hoffnung sah, war es wohl von Anfang an klar. Was hätte sie von einem gebundenen Mann erwartet? Wenn sie verletzt wäre, wäre der Abschied vorwurfsvoll und zäh. Wenn sie nur ein Kopfmensch wäre, hätte sie sich nie auf ihn eingelassen. „Sie möchte, dass Du ein glückliches Leben führst – auch ohne sie. Weiß Du? Wenn sie Dich tatsächlich liebte, wollte sie Dich nicht in der Klemme sehen. Also machte sie Dir Deinen Weg frei. Wenn diese Liebe kein Geschenk wäre, was wäre es?“ als Außenseiter kann man die Handlung gut nachvollziehen. „Du bist reichlich beschenkt worden. Was willst Du denn mehr?“ Ich hörte nur schluchzen. Ich seufzte. „Du muss einfach glücklicher werden. Du hast ein Geschenk erhalten. Es ist ja wirklich ein Glück.“
Es war ein Gespräch vor knapp zwei Stunden. Es war gegen Abend in Taipei, während es in Zürich ab und zu Sonne schien. Seine Tochter rief ihn an und fragte ihn, wann der Papa nach Hause kommt. Sie sei stolz, dass ihr Vater der Boss ist. Der Boss in eigener Firma, aber nicht der Boss in eigenem Leben. Zumindest bis jetzt.