„…die Wilden dieser Inseln sind die zufriedensten, die glücklichsten (…) Sie haben kein anderes Gewand als das, mit dem die Natur sie bedeckt hat. Sie kennen eine gesetzte Ordnung: sie leben ganz in Freiheit, trinken und essen, was es ihnen gefällt. Sie machen sich keinerlei Sorgen, nicht einmal von der einen Mahlzeit zur nächsten, und schon gar nicht um den kommenden Tag…“ J.B. Du Tertre. Paris 1667, S. 356.
Unsere Reisegruppe nach Yunnan bezeichnet sich als die Wilden. Unsere Fladen, die wir dann selbst erzeugen, heisst „Ye Ren Cha Bing“ (Wilde Menschen Fladen) Eine interessante Formulierung, wenn man vergleich mit dem Text von dem fränzösischen Reisebericht im 17. Jahrhundert. Wer ist für wem wild?
Was bedeutet denn heute „Wild sein“ in unserer entzauberten Zeit? In einer Zeit wo alles bereits bereist und entdeckt wurde, wo alles aufgeklärt und belegt wird? Wo liegt noch Zauber und wo sind die Wilden?
Ich bin wild – ich hoffe, ich bin wild genug. Wild genug, noch zu meiner Wildheit zu stehen.
Vor zwei Wochen sprach mein Bonsai-Doktor zu mir, als ob er zu seinem Amigo geredet hätte. Ich sagte ihm sofort, dass ich nicht sein Kumpel sei. Aus seiner guten Erziehung entschuldigte er sich sofort. Aber ich habe ein Gespräch mit ihm gewünscht.
In dem Gespräch sagte er mir, dass er wild sei und seine Meinung direkt ausspricht. Er sagt seine Meinung.
Er sei wild und kann seine Meinung einfach sagen.
Ich lachte richtig und sah einen Spiegel vor meinen Augen. Also – mein lieber Junge… Meinung zu sagen ist einfach. Schwierig wird es, wie man es sagt. Noch schwieriger wird es, zu eigenen Meinungen zu stehen, nachdem man es gesagt hat.
„Es ist nicht so interessant, wild zu sein.“ sagte ich. „Interessanter wäre zu respektieren, dass Du und die anderen Meinungen haben. Wenn die anderen andere Meinung haben, kannst Du immer noch Deine Meinung respektieren und zu Dir zu stehen? Das ist interessant. Nur einfach etwas zu sagen ist nicht so spannend.“
Die Augen von Tim fingen an zu leuchten. „Wild sein und keine Grenze zu kennen ist uninteressant. Die Grenze zu erkennen und zu respektieren macht Dich zu einem feinen Menschen. Wenn du noch Mut hast, wie die Wilden, dann bist Du ganz interessant für Deine Mitmenschen. Denn Du bist ein feiner Wilde! Mutig und fein.“
Tim erzählte weiter, dass er bis vor kürzen in privater Schule war und hatte das Gefühl, dass es demokratisch sei zwischen ihm und den Lehrern. Die Lehrer sind bezahlt von den Eltern der Schülern. Er konnte immer seine Meinung äussern. Nun ist er in der öffentlichen Schule. Die Lehrer sind über ihn gestellt. Er muss lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen.
„Also, wenn Du Tee bei mir lernst, bin ich für Dich eine autoritäre Person, oder?“ ich schmunzelte.
Er nickte.
„Also, dann ich bin über Dich. Ist es klar?“
Er wusste nicht, wie zu antworten.
„Wenn Du mich nicht respektiert und auch wenn Du mich bezahlst, schmeisse ich Dich raus. Glaubst Du es?“
„Ja, ich traue Dir zu.“
„Weiss Du, das stimmt, dass man meine Arbeit bezahlen kann. Aber, was ich geben kann – ich kann viel mehr geben, alsdas was ich bezahlt werde – und DAS tue ich aus meinem Herzen. Das ist nicht zu bezahlen! Das geschieht nur vom Herzen zum Herzen!“ ich lächelte zu ihm, „Ist es Dir auch klar?“
Mein Bonsai Doktor schien nachdenklich zu sein.
Ich liebe unsere Gespräche – Teespräche mit einem inzwischen 16jährigen Junge, der alles mit anderen Augen sieht und die Welt mit voller Poesie betrachtet. Höflichkeit ist anders als Demut. Höflichkeit ist anders als Dankbarkeit. Höflichkeit ist anders als Respekt. In der Dunkelkeit habe ich lange alleine versucht, zu verstehen, was Respekt bedeutet und was Mut anstellen kann. Aus einem sehr bürgerlichen Verhätlnis habe ich mit vielen Mühe die so gennante Freiheit zu gelangen und zu begreifen, Grenze und Freiheit immer nebeneinander stehen. Menschen sind in der Schweiz gerne höflich, aber herzlich sind die meisten nicht. Mein Bonsai Doktor hat eine wunderbare Chance durch seinen Teeweg sein Herz zuzuhören und seine Freiheit in wahrsten Sinn des Wortes zu leben. Mut und Respekt wünsche ich als Begleiter für unser Leben.
Der Wilde pendelt sich zwischen dem „edelen“ und „bedrohlichen“ – nicht nur in den europäischen Reisebeschreibung letzer Jahrhunderten, sondern auch noch heute.