In unserem alten dunklen Haus sah man nicht, ob etwas neuwertig war oder altmodisch. Alles verschwanden in der Schattierung im Dunkel. Aus diesem Millieu aufgewachsen wusste ich nicht, dass man Dinge so pflegen sollte, um immer neu aussehen zu können. Dinge putzen und pflegen waren nie unsere Stärke.
Das war mein Kulturschock, als ich den „germanischen“ Alltag in die Berührung kam. Ich staunte wie „germanische“ Frauen ihre Töpfe putzen und ihr Haus frisch halten. Ich kannte es nicht und kann es nicht. Ich kaufe nie eine Hülle für mein IPhone, schaue nie, dass mein alter Lacktisch keine Spuren bekommt und mache oft extra Kratzer auf dem glatten Oberfläche, als ob ich dieses Stück schon lange kennen würde. „Was soll´st? Die Dinge sind doch fürs Benutzen da, nicht wahr?“ Umgekehrt liebe ich alte Dinge. Alte hässliche gekratzte Dinge, die eine Geschichte erzählen können.
Mein Lehrer und ich verstehen gut im Tee. Ansonst vielleicht nur noch die Politik, sonst nichts. Er mag Pu Er nicht. Ich liebe Pu Er. Er mag Literatur nicht. Ich empfinde eine Leidenschaft für Literatur. Er mag Musik nur selten. Ich habe Musik als meine Lebensquelle. Er fragt sich oft, warum ich bis heute immer noch gerne unterwegs bin und warum kein Sicherheitshafen buchen wollte. Er versteht nicht, dass es in manchem Lebensentwurf nicht um die Sicherheit und haben geht, sondern um den Prozess. Aber wir lieben Tee.
Wenn es draussen ganz kalt ist, röstet Atong gerne seinen privaten Tee, darunter oft Lishan Hochland. Auf 2600 Meter hohen Bergen Lishans wachsen immer noch Qingxin Oolongbusch. Die kalte Luft und Luftdruck macht die Pflanzen dichfleischige Blätter, die ein wesentliches Merkmal ist, wenn man den Tee sonst nicht auf Anhieb erkennen kann. Als ich noch jung im Tee war, war der Lishan Hochland ein unglaublich langweiliger Tee – ich scherzte gerne – wie die Schweizer… Damals tanzte ich gerne und liebe Latino-Musik. Der Alishan Hochland war für mich viel spannender – eben wie die Latino.
Nachdem Spuren des Lebens auch in mir hinterlassen haben und ich bekam Zugang zu der Vielschichtigkeit des Seins, verstand ich auf einmal die Zurückhaltung dieses eleganten Tees, der nicht laut schreit und gerne subtil bleibt. Zart, blumig und in sich ruhigend – in einer Überzeugung, dass die Dinge für sich selbst sprechen; in der Überzeugung, dass man den richtigen trifft.
Aus einem Blatt Tee lese ich Spuren, was der Boden und der Menschen ihn geprägt hat – ist er stark gedünnt, ist der von Zikafen befallen oder wurde er über Holzglut geröstet. Aus dem Aufguss des Blattes spricht der Tee zu uns, was für einen Prozess er durchleben muss, um hier zu sein. Als ich bei dem verschneiten Tag vor meinem Fenster diesen Lishan Holzkohle trank, überwältigte mich das Bild von Palimsest! Ein Blatt Papier, das immer wieder gekratzt, geschrieben und geschabt wurde, wurde immer vielschichtiger in jeder Wiederholung von Kratzen und schreiben!
Der schöne Lishan kommt nicht nur aus sehr edeler Herkunft – eben Hochland, wurde nicht nur getrocknet, er wurde sogar über 130 Grad Holzkohle-Glut geröstet. Diese Röstaroma erschwert den Zugang von meisten Liebhaber zu ihm, ziehen andererseits besondere Liebhaber, die genau die leicht herbe ungefällige Note, die einen Tee besonders macht. Hinter dem herben Mantel verbirgt eine Schönheit, die durch Gluten facettenreicher und eigenartiger wird. Das Palimpsest ist dieser von Holzkohle geröstete Lishan Hochland! Einmal sagte Atong zu mir, dass der Lishan Holzkohle geneu ich sein kann. Auch ich und jeder von uns ist ein Blatt Palimpsest!
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