Jeder Tee ist ein Palimpsest. In jedem Blatt verbirgt ein Mensch, ein Ort, eine Tradition und ein Zugeständnis zum Tee.
Durch Tee kam ich in die Schweiz. Als ich nach einem Bleibe suchte, schaute ich verschiedene Wohnungen an. Manchmal war ich so erstaunt über die einwandfreie Badewanne eines alten Hauses! Ich dachte immer, was machen die Frauen in dieser Gesellschaft? Haben sie nichts anders zu tun als zu putzen? Oder vielleicht sind es die Männer, die putzen?
Mit der Zeit verstehe ich, dass diese Phänomenen gewisse Mentalität und Merkmale bestimmten Millieu aussagen.
Meine Kunde in Shui Tang verehren gerne glatte glänzende Porzellan und sind immer beeindruckt von der dünnen Schale vom Meister Hsu. Oft schmälen sie die dicke Steinzeug. Es sei zu grob. Wenn ich solche Kommentare höre, fühle ich mich plötzlich so nah zu meinem Grossvater, der hässliche Orchideen und hässliche Steine gesammelt hat. Er sagte gerne, „Nur gewöhnliche Menschen haben gerne einwandfreie Schönheit…“ Wenn alle die perfekte Edelsteine haben wollen, dann – dachte er wohl – sammelt er eben hässliche Steine. Er sammelte nicht nur solche komische hässliche Sache, die mein älteste Onkel erbt, sondern auch Kalligraphie. Die Kalligraphie in unserer Familie verkörpert keine Kunst und gar keine künstlerische Fähigkeit, sie ist – wage ich es zu sagen, eine Lebenshaltung, wie man zu sich, zu Kosmos und zu allen anderen steht.
Ich mag die Kalligraphie von Su Dongpo, vor allem das Stück Han Shi Tie, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde und im Süden aus seinem Amt herabgesetzt wurde. In einer traurigen depressiven Stimmung versuchte er sein Leben nicht zu verschönern, ohne es zu jammern, gab einfach die Tatsache wieder, wie er sich fühlte. Jedesmal wenn ich es lese, versetzt die Schrift mich in einer anderen Zeit und in einer anderen Lebenslage. Jeder von uns bekommt Möglichkeiten von Leben die Höhe und die Tiefe zu erleben. Alles was geschieht hinterlassen Spuren in uns. Da wir eben nur gewöhnliche Menschen sind, wollen wir in unser Palimpsest nur das Schöne und Fröhnliche aufbewahren, während die Schmerzen und Enttäuschung wie Müll irgendwie weg radiert werden soll. Die Kalligraphie von Su und wie der Lishan Hochland Holzkohle wirken wie Schlüssel zu meiner Palimpsest, es ist die Zeit, es mit dem Finger durch das Blatt zu spüren, was alles überlappert wurde…
Auf dem Exemplar von Han Shi Tie kann man tatsächlich die Spuren dieses geschätzten Stück suchen. Mit jedem Siegel erfahren wir seine Liebhaber, die ihm zeitlang aufbewahrten. Mit jedem Strich kommunizierte der Autor mit uns, wie er sein Leben als schwer und ohnmächtig beschrieb und wie er in der scheinbaren Ausganglosigkeit immer noch zu sich selbst stand. Es ist keine schöne Kalligraphie, indem sie uns mit Schönheit entzückt und die Wörter von Su verschönern nicht das realen Leben. Es ist „die“ Kalligrahpie in der chinesischen Kultur, die uns vermittelt, was Wahrhaftigkeit und Selbst-Sein schön ist. Es ist schön, weil es Palimpsest ist – in jeder Kratzer oder Schmerzen vielschichtiger wird.
Zhuangzi, der taoistische Philosoph erzählte gerne eine Geschichte von Menschen, die gerne etwas aufbewahren wollten. Jemand wollte sein Schiff gut vor Diebstahl aufbewahren. Er versteckte sein Schiff sorgfältig in einem Tal und glaubte es sehr klug gehandelt zu haben. In der Nacht regnete es zu stark und es wurde überall überflutet. Das Schiff wurde in dem Flut mitgerissen und verschwand noch bevor der Man es retten konnte!
Das Schiff ist wie die Zeit, die ihren eigenen Lauf hat. Das Schiff ist wie unsere Vorstellung, die scheinbar wertvolle Dinge so aufbewahren will, was in der Wirklichkeit keine Substanz hat! Meine Finger streichelen über das Teeblatt, als ob ich ein Palimpsest streicheln würde. Nichts ist aufzuhalten. Nichts ist zu verbergen.
Palimpsest II
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