Worte

Meine Großmutter bereitete sich für ihren Tod seit sie sechzig wurde. Sie kaufte immer wieder neue Seidebluse und getrickte Schuhe. Immer wieder erzählte sie meiner Mutter, wie sie bei der ersten Todesfeier angezogen werden sollte und wie sie gerne bei der letzten Feier – Beisetzung aussehen wollte.

Sie war eine launisch emotionale Person, die das Leben der anderen erschwerte – sicher beabsichtigte sie es nicht. Je nach ihrer Laune wurde der Hochblutdruck meiner Mutter unterschiedlich gemessen. Als junges Mädchen sah ich, wie meine Großmutter und Tante schwer gegen ihre eigene Emotion zu kämpfen hatten und anderen Menschen zum Opfer machten. Ich schwöre einmal, dass ich nicht das Spielball werden will – von meiner eigenen Emotion.

Man wird trotzdem Spielball von eigenem Konstrukt und von der eigenen Emotion, vor allem wenn man verweigert, eigene Innenwelt zu beobachten – eigene Reaktion zu hinterfragen und zu zweifeln. Wie viele Menschen können denn ihre Gefühle benenen? Wenn das Herz spürt, dass es zwischen Menschen etwas nicht stimmt. Vielleicht stimmt etwas nicht mit uns, vielleicht mit andren, man spürt bloss eine Negativität, die ausgelebt werden muss. Dann entsteht Konflikte. Anstatt die Dinge zu benennen, direkt auszusprechen und anzusprechen, werden Konflikte emotional ausgetragen. Das sind Beziehungskriege oder wahre Kriege.

Manchmal ist es die Brutalität des Nicht-Benennen-Könnens so brutal, wenn jemand stirbt. Der Tod bringt alles zum schweigen.

Mein Zenlehrer ist tot. Bis jetzt habe ich noch nicht geweint. Nur heute in den kurzen Moment mit Anna im Telefon fing ich an plötzlich zu weinen. Sie sagte mir, dass sie auch noch nicht geweint hat. Wir müssen uns sehen, um zu weinen. Ende Mai sollen wir zusammen in Berlin richtig weinen. Und beim Weinen über Michel sprechen. Über Michel sprechen anstatt mit ihm zu sprechen. 

Worte können nicht ausdrücken wie ich fühle – Schweigen auch nicht.

Bevor die Reisegruppe in Taiwan eintraf, bevor mein Vater sein Cognac mit den Teefreunde aus Europa „Ganbei“ machte, erlitt er einen kurzen Schlaganfall. Es war in der weltlichen Zeit nur 15 Sekunde. In meiner Zeit war es die Ewigkeit. Wir dachten, das war der Tod und das wars.

Keine Zeit Abschied zu nehmen. Keine Zeit, alles Gute zu wünschen. Er hatte keine Zeit, keine Möglichkeit uns etwas zu sagen. Wir hatten keine Zeit und keine Chance ihm etwas zu sagen. Er erreicht einiges in seinem Leben, was nichts mitgenommen werden könnte! Er kam mit einem nackten Körper und würde genau so gehen mit einem nackten Bauch. 

Wozu Reichtum und Glanz? Vor dem Tod sind wir alle gleich. Niemand nimmt beim Tod etwas mit. Wenn das Herz nicht gelebt werden kann, bringt das ein bisschen Geld und Ruhm nichts weiter. Das Herz, das uns mit anderen Menschen verbindet, leidet, wenn wir uns zu viel biegen müssen. Manchmal sind wir so verbogen, dass wir es selbst nicht mehr merken.

Nach dem Erwachen ass mein Vater weiter an seine Papaya, als ob es nichts passiert wäre. Zum Krankenhaus verweigerte er, zum Arzt geht er nicht. Meine Familie fühlte sich verzweifelt. Ich sagte meinem Vater, dass er viele gute Lebensversicherungen abgeschlossen hat und viele Immobilien als Sicherheit hatte. Wir, die Hinterbliebenen wären gut versorgt. Uns würde es auch gut gehen ohne ihn. Aber er muss für sich selbst schauen, wenn er uns länger sehen will. Mein Vater war sprachlos über meine Direkheit. Kannst Du für ihn leiden? Kannst Du für ihn zum Arzt gehen? Kannst Du für ihn sterben? Er muss selbst gut leben wollen.

In diesen kurzen 15 Sekunden verstand ich, nicht zu schweigen. Die unausgesprochenen Worte würde mein Grab zu schwer machen, dass ich keine Ruhe fände. Das Herz ist bereits tot, aber die Worte haften noch in Steinen und suchen nach dem Licht. Die ungeweinten Tränen können im Grab eine Überschwemmung verursachen. Worte kann mein Gefühl nicht ausdrücken, schweigen leider auch nicht!

Ein Gedanke zu „Worte

  1. Christoph

    Liebe Menglin,

    ist es der Zweifel… die Suche nach dem Sinn… die Zeit die verrinnt… der Dualismus, der Kampf zwischen gut und böse… das Leben das aus zu vielen Kompromissen besteht… vielleicht dein Leben vielleicht mein Leben vielleicht das Leben von zu vielen das hätte anders laufen sollen… HÄTTE MAN ETWAS ANDERS MACHEN KÖNNEN? Der Tot nimmt die Möglichkeit etwas zu verändern.
    Und doch ist er nur ein Teil des Lebens.
    Wenn wir der Möglichkeit des Todes begegnen ist es mehr wie ein Spiegel der uns selbst vorgehalten wird. WAS IST WENN ICH ES WÄRE!
    Es kommt nicht darauf an wie lange ein Leben wärt sondern darauf, dass es gelebt wird. Vielleicht Sterben wir schon mit unserer Geburt? Mit unserer Zeugung beginnt der ungeschriebene Weg unseres Lebens. Der Weg zu uns selbst. Und nur wenn wir diesen Weg gehen können wir Frieden für uns und unsere Umwelt finden. So wie wir uns selbst wahrnehmen nehmen wir auch die Umwelt wahr.
    Der Tot macht uns zu etwas lebendigem, zu etwas begrenztem, zu einem sich freuenden, genießenden, mit allen Sinnen lebenden und liebenden Menschen.
    Oder besser gesagt sollte er das machen.

    Die Wirklichkeit ist die: den Tod gibt es… aber wir sollen uns über das Leben mehr Gedanken machen… wir sollen leben.
    Eine Schale Tee ist Leben… ein Spaziergang ist Leben… der Duft von Nadelwald ist Leben… eine Blumenwiese ist Leben… den Geschirrspüler ausräumen ist Leben… den Müll raustragen ist Leben… Atmen ist Leben… die Unendlichkeit seines Selbst zu erfahren ist Leben!

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