Was ist das typische „Schweizerische“?

Heute habe ich Lust einen provokativen Blog zu schreiben. Wer sein Weltbild und sein kulturelles Selbstverständnis nicht gerüttelt werden möchte, sollte hier per Mausklick, diesen Blog verlassen. Es geht nicht um Tee, sondern um das Zusammenleben in einer so genannten multikulturellen Gesellschaft.
Was ist das Schweizerische? Milchkühe, Lusxusuhren von Rolex oder Migros? Für mich ist es typisch schweizerisch, wie ein Schweizer sich gegenüber seinen Mitmenschen verhält und über sich sagt. Die meisten Schweizer würden sagen, dass sie nicht typisch schweizerisch sind und sogar – EUROPÄER sind!

Heute trafen wir uns zum Tee. Zum Schluss waren wir zu dritt: eine Japanerin, die mit einem Schweizer verheiratet ist und ein Schweizer, der aus einem alten Geschlecht in der Innenschweiz stammt und mit einer Japanerin verheiratet ist und ich, die seit 1992 in Deutschland lebt. Die beiden leben in einem von deutschen „Gastarbeiter“ eroberten Finanzstandort Schweiz – Zürich.
Die Japanerin erzählte von ihrer Erfahrungen mit Deutschen in Zürich. Deutsche erscheinen ihr vom Verhalten her eher grob und direkter als Schweizer. Sie habe das Gefühl, dass Deutsche weniger Wert auf die Freundlichkeit als Schweizer legen. Ich lachte und sagte, „ja, nun hast Du einen Kulturschock mit Deutschen. Ich habe auch meinen Kulturschock mit Schweizer!“ Die Ohren wurden steif. Der Schweizer fragte sofort, „Menglin, was für Kulturschock hast Du?“ Ich begann hemmungslos über meine Fremderfahrungen in der Schweiz zu erzählen. Von meiner Beobachtung beim Einkaufen, im Restaurant und auf der Strasse. Schweizer scheinen mir sehr freundlich zu sein, – besser ausgedruckt: sie bemühen sich sehr freundlich zu sein! Diese sichtbare Bemühung im Laden, im Restaurant auch in meinem Bekanntenkreis, freundlich zu sein, sagt mir sehr viel über Verhaltungsmuster und die Moral einer Gesellschaft aus. Ich erzähle weiter von meiner Erfahrungen als Gast bei Schweizer Familie und Freunden, was mir sehr fremd erschien. Ich war im einen Redefluss zu erzählen, sogar über die Welschschweizer über den Röstigraben zu berichten. Die beiden Einwohner aus Zürich konnten es nicht mehr weiter schweigen und sagten, “ Nein! Das kann nicht wahr sein! Das sind deine Erfahrungen! Schweizer sind nicht so! Deine Leute sind komisch, sie sind nicht normal!“, ich erwiderte „Doch, es sind alle „anständige“ Schweizer!“ “ Das kann nicht sein. Du kennst wirklich komische Leute!“ „Wie kannst Du es pauschalisieren, dass Schweizer so order so sind!“ regte der Schweizer auf, “ es sind deine persönliche Erfahrungen, die mit Dir zu tun hat!“ Ich spürte, dass ich mit meiner Ehrlichkeit und Offenheit zu weit gegangen bin und nun stehe selbst plötzlich im Pulverzone. Ich lachte und entschuldigte mich für meine Art des Betrachtens im Gespräch. Ich erzählte nur von meinem Bild über die Schweiz über ihre Gastfreundschaft, Umgang zwischen Menschen und Körpercodes auf der Strasse. Sie erscheine mir als real, weil ich mit meinem Schlitzauge die Dinge anders sehe und anders erlebe. Als ein sichtbarer Fremder lebt an der Grenze des Verständnisses der Gastgeber-Gesellschaft.
Solche Gespräche habe ich paar Male mit Schweizer Freunde ausgeführt. Fast immer bekomme ich Vorwurfe, dass das Problem solcher Erfahrungen an mir liege. Denn sie erfahren so etwas nie! Das gäbe nicht in ihrem Leben und passt nicht zu ihrem Erfahrungshorizont als ein „normaler“ Schweizer. Nach heutigem Gespräch habe ich etwas gelernt, nicht mehr über meine „Fremderfahrungen“ mit dem „Fremden“ auszutauschen. Es überspringt die Grenze eines Erfahrungshorizonts eines „anständigen“ Bürgers! Es ist immer einfacher, das Andere und das Spiegelbild als kurios, komisch und verzerrt einzustufen, als, es als eine Chance, über eigenes Weltbilds zu reflektieren. Es gilt auch für mich. Es wäre zu reflektieren, dass ich meine Erfahrungen nicht zu bewerten und nicht mit Emotion auf sie zu reagieren. Es ist immer schwer, negative und manchmal erniedrigende Erfahrungen mit Distanz zu betrachten. Aber es ist unsere Aufgabe als Mitglied in einer Weltgesellschaft, mit der Reibungen der Kulturen umzugehen. Das Fremde rückt immer näher und wir können diese Entwicklung nicht mehr anhalten. Der Fremde war, der heute kam und morgen weiter wanderte. Heute ist der Fremde, der heute kommt und morgen bleibt.
Das Fremdbild könnte einen Blindwickel unserer Gesellschaft widerspiegeln, wenn wir ihm als eine Chance sehen könnten.

7 Gedanken zu „Was ist das typische „Schweizerische“?

  1. marc

    „Diese sichtbare Bemühung im Laden, im Restaurant auch in meinem Bekanntenkreis, freundlich zu sein, sagt mir sehr viel über Verhaltungsmuster und die Moral einer Gesellschaft aus. “

    Was sagt es denn über die Moral der Gesellschaft aus?

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  2. stefan

    Du schaust unter die Oberfläche. Menschen haben ständig ein anderes Bild über etwas im Kopf, die Realität ist scheinbar das Bild im Kopf, welche Realität? Nichts scheint wie es scheint unsere Wirklichkeiten scheinbar Interferenz der verschiedenen Sinne in einer Ordnung. Schweizerisch wäre vielleicht ein Bild im Kopf geprägt durch das (statistisch) harmonische Mittel dieser Wirklichkeiten.
    Da fällt mir noch folgender Songtextausschnitt ein
    „…existence is what we are all within“
    hab ich neulich im Radio gehört, kenne leider die Band nicht..

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  3. Menglin

    Lieber Marc,
    Die Freundlichkeit, die ich im Laden, Restaurant und beim Bekannten in der Schweiz erlebe, ist oft nicht eine natürliche Art zwischen Menschen. Diese Freundlichkeit ist anerzogen und verlangt eine Anstrengung. Besser wäre, manchmal das wirkliche Gefühle ausdrücken zu können. und „direkter“ miteinander zu leben, ohne ein Konzept zu haben, freundlich sein zu „müssen“.
    Ich wollte damit sagen, dass die Moral der schweizer Gesellschaft für mich die Anständigkeit und Freundlichkeit ist. Anständig und freundlich zu sein erscheint mir das Gebot der schweizer Erziehung.
    Es sind nur meine Beobachtungen, keine Wahrheiten.

    Eine japanische Freundin erzählte mir einmal, dass sich die schweizer Gesellschaft der japanischen ähnelt. Man pflegt gerne einen freundlichen formellen Umgang miteinander. Vielleicht hat sie recht.

    Im Respekt
    Menglin

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  4. marc

    ich denke die Leute aus der Schweiz können sehr verschieden sein, je nachdem woher sie kommen. Im Tessin zum Beispiel treffe ich viele herzliche Leute, die sehr direkt und auf natürliche Weise freundlich sind. Oder in Berggegenden wie Graubünden oder Wallis. Oder auch zwischen Deutsch- und Welschschweiz. Zürich ist ein bisschen ein Sonderfall, denke ich.

    grüsse
    marc

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  5. Menglin

    Du hast vollkommen Recht. Es geht für mich eigentlich nicht so um, was das Schweizerische ist, sondern mit dem Umgang des Fremdbild in einer pluralistischen Gesellschaft wie die Schweiz.
    Menglin

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  6. Andreas

    Hallo Menglin,
    ich fand diesen Blog, als ich nach den Stichworten „Erfahrungen mit Deutschen“ suchte. Dein Beitrag handelt zwar von der Schweiz, trotzdem fand ich ihn sehr aufschlussreich. Die Frage ist, ob die Abwehr nicht einfach eine Reaktion des sich angegriffen fühlen beinhaltet. Ich habe als Deutscher in einem deutschen politischen Forum die Beschreibung des amerikanischen Soziologen Silverman diskutieren wollen, der behauptet:

    „Normale Deutsche halten es für ihre Pflicht, jeden zurechtzuweisen, der ein Gesetz übertritt. Sie zögern nicht, Fremde zu tadeln. In Bussen in Westdeutschland werfen die Fahrgäste ihr Fahrgeld in einen Behälter; ein unwissender Fremder, der dies nicht tut, wird von den Anwesenden ausgezischt…. Deutsche überqueren die Straße nur, wenn die Ampel grün ist und lassen ihre Hunde nur in speziell markierten Bereichen ihr Geschäft verrichten“ (Schneider/Silverman 1997, 217 f; Übersetzung K.F.). “

    Natürlich ist das eine sehr pauschale und pointierte Sichtweise. Aber die Reaktion war alles andere als souverän. Der ganze Beitrag wurde gleich gelöscht.Im Grunde eine Art Bestätigung dessen, was auch du in anderer Form erlebt hast, die Fehler werden negiert und nicht diskutiert.

    Vielleicht stimmt ja der Satz des Philosophen Schopenhauer:

    „Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen“

    (aus Aphorismen und Lebensweisen.)

    Da ist diese unstillbare Sucht vieler Menschen nach Harmonie, die sich aber leider nicht immer darin äußerst die Fehler zu benennen und sie dann zu ändern, sondern sie als nicht existent zu erklären. das ist sicher auch einfacher und bequemer.

    Sie zu thematisieren bedeutet Stellung zu beziehen und sich mit den Fehlern seiner Nation oder Gesellschaft auseinanderzusetzen. Daher sind die Erfahrungen von Fremden so entscheidend. Wenn ich zum Beispiel als Deutscher beobachte wie manche Deutsche Fremde behandeln, und das thematisiere, dann glaubt man mir nicht. Dann heißt es rasch „Ich kenne auch einen Ausländer, der hat so etwas nie erlebt und wurde immer gut behandelt…“ Mit Deinen Erfahrungen könnte man sagen, er hat wahrscheinlich nur nie darüber geredet.Ich glaube viele Ausländer in Deutschland, die etabliert sind, schweigen lieber, anstatt offen ihre Erfahrungen mitzuteilen.

    Es ist aber notwendig, offen darüber zu reden, damit sich die Menschen ändern können, in Deutschland, in der Schweiz und anderen Ländern..

    Viele Grüße
    Andreas

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