Archiv für den Tag 06/03/2012

Die ganze Welt in einem Teebecher

Dank Joseph können wir eine wunderbare Bericht von Philipp Meier (NZZ) über die Teeschale-Ausstellung in Winterthur lesen.

Neue Zuercher Zeitung
06. März 2012
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Die ganze Welt in einem Teebecher

«Tausend und eine Schale» – eine Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur

Hundert namhafte Keramikerinnen und Keramiker aus fünf Kontinenten schufen für eine Ausstellung je eine Serie von zehn individuellen Schalen. Das Projekt bietet einen Überblick über die grosse Vielfalt weltweiten Keramikschaffens.

Philipp Meier

Dem Tongefäss eignet etwas Universelles. Seit Urgedenken gehört es zur Menschheit wie das Feuer. Für die Aufnahme von Flüssigkeit, für die Aufbereitung und Aufbewahrung von Lebensmitteln ist es Voraussetzung, für Zivilisation damit unabdingbar. Im Feuer gebrannte Tonerde eignete sich seit je dazu, die hohle Hand, in der Negativform gewissermassen auch die nährende Mutterbrust, nachzubilden. Scherben von Trinkschalen wurden stets bei alten Kulturen gefunden. Das keramische Handwerk ist denn ein weltumspannendes Phänomen und so alt wie die Menschheit selber.

Indischer Prototyp

Um solche Topoi dürften wohl auch die Gedanken der Genfer Keramikerin Claude Presset gekreist sein, als sie im Jahr 1983 in der Tempelstadt von Nathdwara in Rajasthan an einem mit Tee gefüllten Terrakotta-Becher nippte. Nach der Teepause warf sie entgegen den Gepflogenheiten in Indien das tönerne Gefäss aber nicht einfach weg, sondern steckte es wie einen Schatz ein und trug es mit nach Hause. Der kleine Becher gab den Ausschlag für ein Projekt, das Claude Presset Jahre später realisieren sollte. Hundert namhafte Keramikerinnen und Keramiker aus unterschiedlichen Weltregionen wurden schliesslich eingeladen, für eine Ausstellung je zehn Trinkgefässe – in verschiedenen Variationen, aber in einer ausgewählten Technik und mit einem bestimmten Verfahren – anzufertigen.

«Tausend und eine Schale» heisst denn diese Wanderausstellung, die bereits in Indien, China, Korea, Frankreich sowie in der Westschweiz gezeigt wurde und nun im Gewerbemuseum Winterthur ihre vorläufig letzte Station erreicht hat. Tausend Schalen und Becher sind in zehn transportfähigen Show-Cases zu bewundern – so unterschiedlich in Materialität und Beschaffenheit, in Farb- und Formgebung, dass die Schau bestens dazu geeignet ist, einen globalen Überblick über das heutige Keramikschaffen zu bieten. Das tausendunderste Gefäss aber, in seiner herben Einfachheit gleichsam ein Prototyp des Teebechers schlechthin, thront, zum musealen Exponat geadelt, erhaben in einer separaten Sockel-Vitrine (Nr. 1 im Bild, das sich von oben links nach rechts unten liest).

Kulhar heissen in Indien diese ursprünglichen, henkellosen, aus orangerotem Ton geformten und unglasierten Becher, in welchen überall im Land Chai – indischer Tee – serviert wird. Das Ungewöhnliche an diesen äusserst gewöhnlich erscheinenden kleinen Gefässen, die zu Millionen hergestellt werden, ist der Umstand, dass sie zum einmaligen Gebrauch gedacht sind und danach weggeworfen werden.

Sie sind sozusagen die Vorläufer der Pappbecher, die sie heute auf den Bahnhöfen und in den Zügen Indiens zusehends verdrängen. Aufgrund des Brandes bei 900 Grad Celsius in einem rudimentären Keramikofen sind diese Gefässe sehr hygienisch, ja sogar steril. Ihre Eigenschaft, einen feinen Geschmack von Tonerde abzugeben, wenn der heisse Tee in die poröse Innenwand des Gefässes eindringt, wird überdies besonders geschätzt. Solche simplen Trinkgefässe sind in Indien seit rund 5000 Jahren im Gebrauch, sie lassen sich bis auf die bronzezeitliche Indus-Zivilisation zurückverfolgen.

So hob gleichsam mit diesem Urtypus des Teebechers eine Geschichte an, die sich wie Scheherazades Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bis zum heutigen Tag fortspinnt. Der Ausstellungsmacherin ging es denn vor allem auch darum, an Beispielen von heute etwas vom enormen Facettenreichtum dieser Geschichte einer weltumspannenden Töpferkunst aufzuzeigen. Bei der Auswahl der eingeladenen Keramikerinnen und Keramiker wurde darauf Wert gelegt, bezüglich Material, Brenntechnik und Umgang mit Glasur möglichst unterschiedliche Verfahren, aber auch möglichst verschiedene Auffassungen die Gestaltung betreffend zu berücksichtigen.

Tradition und Experiment

Während die einen Töpferkünstler etwa ausschliesslich Ton oder Steingut verwenden, wählen andere Keramikerinnen lieber Porzellan. Kersti Biuw aus Schweden benutzt einen roten Ton, den sie unglasiert belässt und so dessen erdige Eigenschaften zur Geltung bringt (Nr. 3). Die Zürcherin Cornelia Trösch hingegen zieht für ihre filigranen, blumenartigen Kelche porzellanene Lichtdurchlässigkeit vor (Nr. 10).

Die einen Keramiker arbeiten ganz traditionell, achten streng auf Funktionalität ihrer Schöpfungen. Andere wiederum gehen völlig experimentell vor, ihnen geht es vorab um den persönlichen Ausdruck. So atmen Yoshida Yoshihikos schlichte Sakebecher mit bernsteinfarben bis lachsrosa schimmernder Feldspat-Glasur den Geist traditioneller japanischer Teekeramik (Nr. 8). Die stacheligen, an Seeigel erinnernden Porzellanschalen des Baslers Arnold Annen dagegen sind kunstvoll individuelle Neuinterpretationen einer Teeschale, die wohl kaum wirklich mehr in Händen gehalten werden kann (Nr. 2).

Experimentierfreudig zu Werk geht sein Schweizer Kollege François Ruegg, der die Geste der zum Trinken geformten Hände mittels Abguss-Verfahren auf seine Schalen übertragen hat (Nr. 4). Da geht es denn um Symbolisches und weniger um den Gebrauchswert. Anders bei den mit Blumen bemalten Koppchen, wie sie in der ländlichen Werkstatt für traditionelle Savoyer Keramik von Cécile und Bernard Coronel (Mutter und Sohn) entstehen: Seit Generationen sind sie für den morgendlichen Milchkaffee bestimmt (Nr. 6).

Der Titel der Ausstellung soll auch an die Seidenstrasse erinnern, die den Orient und damit abendländische Kulturkreise mit dem Fernen Osten verband. Seit je war diese Handelsroute Ort regen Austausches. So verwundert es nur auf den ersten Blick, dass es in der Schau sich stark ähnelnde Beispiele verschiedener Töpfer gibt. Die berühmten Tenmoku-Bowls der chinesischen Song-Zeit, wie sie auch heute meisterhaft etwa von Sun Jian Xing geschaffen werden, faszinierten offenbar auch den Franzosen Jean Girel: Für seine Schalen hat er sich von chinesischen Vorbildern der Collection Baur in Genf inspirieren lassen (Nr. 11). Auf alte chinesische Seladon-Glasuren gehen sodann die zart grünblauen Kreationen von Fukami Sueharu in Japan wie von Fu Kaie in China (Nr. 7) oder von Ann Roberts in Kanada zurück.

Alter hispanomaurischer Lüster-Techniken bedienen sich die Belgierin Evelyne Porret (Nr. 9) und die Französin Eva Haudum. Westliche und asiatische Reparaturverfahren hat die in Genf tätige Berlinerin Anja Seiler aufgegriffen. Ihre fragilen Becher sind zum Teil mit Haften versehen, wie man sie früher zum Reparieren von Tongefässen verwendete, aber auch mit feinen Goldverbindungen, wie sie etwa in Japan beim sogenannten Kintsugi zur Wiederherstellung beschädigter Keramiken angewendet werden (Nr. 5).

Die Ausstellung fasziniert durch ihre schiere Varietät. Tausendundeine Nacht lang könnte man da Tee aus immer wieder anderen Gefässen trinken. Und auch ihre Scheherazade hat diese Schau: Eine uralte Geschichte erzählt die Pakistanerin Sheherezade Alam mit ihren rötlichen, in ausgesprochen klassischer Formensprache gedrehten Terracotta-Bechern. Sie verwendet eine Tonerde, die in ihrer Heimat schon seit 5000 Jahren abgebaut wird. Nicht nur in stilistischer, sondern auch in materieller Hinsicht erweist sie damit dem Altertum und den Ursprüngen des indischen Kulhar ihre Reverenz (Nr. 12).

Die Ausstellung ist denn gleichsam eine Hommage an den kleinen indischen Teebecher – er seinerseits ruft in seiner bescheidenen Vergänglichkeit seine simple Funktion in Erinnerung, nichts weiter als ein Behältnis für Flüssigkeit zu sein.

Winterthur, Gewerbemuseum (Kirchplatz 14), bis 6. Mai. Katalog Fr. 52.-. Zur Ausstellung ist ein Dokumentarfilm entstanden, Fr. 15.-, parallel zur Ausstellung wird die Sonderschau «Reflets» mit Lüsterkeramik von 17 internationalen Keramikern gezeigt.