Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass er heute zum Spital gehen wollte, um sich untersuchen zu lassen. Kurz vor dem Ladenschluss am Samstag ging ich zu Udo und wollte mich von ihm verabschieden. Er sagte, dass er eigentlich erst eine Woche später geht. Da lachte ich, „das macht nichts.“ Ich umwarmte ihn und küsste ihn. Dann sagte er mir in meiner Zuneigung, dass er eigentlich lustlos durchs Leben geht und ein Ende setzen würde. Ich glaubte es nicht. Denn ich solche Momente in mir auch gut kenne. Ach, wer kennt es denn nicht? Mir geht es manchmal auch so dreckig.
Ich verabschiedete mich von ihm, denn es noch Gäste gab in Shui Tang. Er ging, lief durch unseren Garten. Das Licht löschte.
Sonntag erfuhr ich plötzlich, dass er paar Stunde später die Welt mit Absicht verlassen hat.
Ich habe einen lieben Nachbar verloren. Die Spieglgasse hat einen langjährigen Freund verloren.
Ihn kenne ich nicht lang. Mit Tee konnte er wirklich nicht viel anfangen. Wenn er sich nicht so wohl fühlte, kam er mich besuchen. Ich kochte ihn Kaffee. Einmal tranken wir zusammen Champagne. Er rat mir öfter, wie ich die Aktivitäten an der Gasse mitmache. Er tröstete mich, wenn ich mühsame Kunde hatte. Zum diesen Weihnachten brachte er mir eine riesen Kiste von Kuezli und ich trug die schwere Kiste nach Taiwan. Diese Kiste bereicherte die Schüler von Atong ihre kulinarische Fremderfahrung…
Alle sind traurig. Die Menschen an der Spiegelgasse und vom Neumarkt halten sich zusammen. Die Innenstadt Zürichs lebt noch eine süsse Dorfstruktur. Ich als Neuankömmlinge ist noch auf der Beobahtungsliste. Aber Udo ist ein alter Freund der Gasse!
Heute bin ich froh, dass ich mich von Ihm bereits Abschied nahm. Ich habe keine Reue. Es ist tatsächlich gut so, dass man die Dinge immer mit diesem Bewußtsein tut, als ob man in nächster Stunde sterben würde. Michel sagte mir einmal, dass er seine Wohnung immer so verlassen, als ob er niemals zurückkehren würde… Ach, was hätte ich noch anderen Menschen zu sagen, die mir etwas bedeuten, bevor es zu spät wird?
Mir ging sehr schlecht. Ich schnitt eine Zitrone. Die Säure der heißen Zitrone glättete meine Stimme. Das Leben ist nicht bitter, sondern sauer.
Nachmittags kam Michi mit einer Dame zu Shuitang. Sie kannte Udo auch. Sie war sehr mitgenommen. Sie warf sich vor, dass sie ihn hätte öfters ansprechen sollte, wie sie zu ihm stand. Aber die schweizer Erziehung erlaubt manchmal nicht die spontane Gespräche und kurze Besuche. Sie dachte, sie würde ihn eher stören… Mit großer Trauer verliess sie Shuitang. Ich weinte innerlich mit. Wie hätte unsere Erziehung unsere Liebeserklärung an unsere Mitmenschen behindert?
Ich beschloss noch bewußter im Fluss des Lebens zu leben. Ich möchte meine innere Stimme von der Kondition und Konvention differenzieren lernen. Eigentlich bin ich sehr glücklich, dass Udo meinen Anfang an der Spiegelgasse begleitet hat und mir eine Lektion erteilt hat, als ob er zu mir flüstern würde: „Menglin, lebe! Lebe im Fluss Deines Lebens!“