Archiv für den Monat Oktober 2024

Mutation im Gongfucha

Seit zwei Monaten arbeite ich an das Konzept von unserem Jubiläumskonzert „Mutation und Gongfucha“. 15 Jahre sind nicht sehr lang für das Berufslebens eines Menschen, aber wohl lang genug für den frischen Wind des Lebens. Ich war inspiriert von den mutierten Teepflanzen, die wir diesmal als Jubiläumstee wählten. Ohne zu ahnen dass Mutation oft negativ vor allem in der Medizin konnotiert wurde.

Oft verwenden wir in der Wissenschaft den Begriff Transformation um einen Entwicklungsprozess zu beschreiben. Poetisch wird der Begriff Wandel oder Verwandlung angewendet. Warum insistiere ich in meinem Text noch das Wort Mutation zu verwenden?

Warum sprechen wir hier über eine Mutation anstatt über eine Transformation oder einen Wandel? In der fernöstlichen Kultur, vor allem im Zen-Buddhismus, versucht man das plötzliche Begreifen einer übergreifenden Sichtweise zu beschreiben. Der „magische“ Moment, in dem ein Mensch – zutiefst berührt – auf einmal eine nicht vorhergesehene neue Erkenntnis erlangt, wird als „Erleuchtung/Wu“ bezeichnet. Doch das ist nicht ein singulärer Moment, sondern er ist hervorgegangen aus einem langen Prozess des Wandels. Im Vergleich dazu veranschaulichen der Begriff Transformation oder der poetische Begriff Wandlung zwar die Entwicklung einer Öffnung zu etwas Anderem, aber das Geschehen des Unerwarteten bringen sie nicht zutreffend zum Ausdruck. Zwar könnte die Bezeichnung Mutation negativ konnotiert werden, sie drückt aber eben gleichzeitig den Prozess der Veränderung und das Eintreten des Unvorhersehbaren aus.

Seit gestern ist die so genannte Winterzeit wieder eingestellt. Der Tag kürzer und die Nacht länger. Ein neues Zyklus beginnt. Mir gefällt wie Duben die Herkunft des Wortes „Wandern“ erklärt: wiederholt wenden, dann: hin und her gehen. Der Anfang ist das Ende, das gleichzeitig wieder der Anfang ankündigt. Ähnlich wie auf den Teetisch. Jeder Aufguss ist jeder neue Anfang. Wiederholt. Aufguss für Aufguss bis der Prozess zu Ende läuft. Jeder Abschied ist zugleich der Anfang der nächsten Zusammenkunft. Auf Wiedersehen.

Notizen zu 15. Jubiläumstee von Shui Tang

Fallen. Und du wirst vom Universum festgehalten!

Als die neuen Puer Lieferung eintraf, steht die Jahreszeit gerade im Wandel: noch paar schöne warme Tage, und dann bringen Regen und Wind auf einen Schlag alles zu Fall. Der schöne Tee aus Yibang und Yiwu überraschen mich mit dieser ausgezeichneten Ernte. Intensiver und aromatischer. Es liegt vielleicht an den Fortschritten des Produzenten und auch amWetter, auch wenn viele andere Gebiete unter Regenmangel litten. 

Der Herbst ist oft ein Synonym von Wandel. Tatsächlich spürte ich einen Wandel in mir als das 15. Jubiläum bewusstwurde. Wohin und wie weiter? Was für Spuren sind bereits hinterlassen? Woher bekomme ich die schöpferische Kraft für den weiteren Weg in den gebundenen Alltag? Gleichzeitig geschehen und geschahen unglaubliche Kriege und leidvolle Entwicklungen in der Aussenwelt. Fallen. Alles fällt.

Das Leben ist ein Mysterium. Ein Mysterium, weil oft die Widersprüche und Gegensätze zwischen Ego und dem Selbst; zwischen aussen und ihnen sich versöhnen oder Auswegegefunden werden müssen. Schöpferisch mit all den Fragen umzugehen ist der Pfad. Aber woher kommt die schöpferische Kraft? Wie kann man das Fallen und das Reifen als eins sehen? Wo ist der Ort, wenn Licht und die Dunkelheit sich treffen? Besteht es nicht eine alte Feindschaft zwischen dem Leben und der grossen Arbeit? (Rilke Requiem 1908) 

Der Dichter Rilke hat uns viele Vorschläge gemacht. In zwei Gedichten «Herbst» hat er uns von der wandelnden Welt erzählt, uns gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Natur und das Universum das einzig Beständige bleiben. Die Beständigkeit ist das Unbeständige im Leben. Das zu erkennen verbindet uns wieder mit dem Unendlichen und wir werden wieder eins mit Allem. 

In einem anderen Gedicht «Lied» schrieb Rilke, «Auch, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halte ich dich fest.» (aus den «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge».) 
Liebe verbindet uns mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt. Ohne festzuhalten, weil wir die Verbindung unendlich leben, und uns über das selbstbestimmte Leben des Geliebten freuen. Wenn die Liebe gleichzeitig süss schmeckt und Trennung herb adstringiert, dann schmeckt das Leben tatsächlich wie der Tee: süss, herb und facettenreich. Je tiefer wir unsere innere Verbindung zur Welt erforschen und uns auf die Liebe einlassen, desto vielschichtiger wird der innere Diamant geschliffen und scheinen. Bevor der Diamant fertig geschliffen ist, und bevor die Quelle von schöpferischer Kraft integriert wird, brauchen wir alle Unterstützung, wenn der Tag dunkler wird. Die Hilfe kann der Tee, kann die Poesie und die Musik sein. Das Süsse des Tees ist wie die feste Umarmung von Rilkes Sprache: ich halte Dich ganz fest, ohne Dich auf Deinen Weg anzuhalten! 

Und die alte Feindschaft zwischen den zu organisierenden Alltag und dem Werk des Lebens ist die treibende Kraft zur Bewusstseinsmutation!

Meng-Lin Chou, Herbst 2024