Die Zugfahrt

Winter. Kalt, karg und steif. Unerweckte Teeblätter, trocken, zerbrechlich und stumm.
Wenn paar schlafende unerweckte Teeblätter mit ganz heißem Wasser aufgegossen werden? Aus der steigt warme feuchte Luft, Blätter sind aufgeweicht und der Duft des Tees verleiht das Winterliche im Raum eine Stimme. War das, das Marcel Proust uns sagen wollte?
Ein Stückchen muschelförmiges Törchen Namens Petites Madeleine. Aus jenem Muschel wurde Venus geboren. Aus jener Persönlichkeit Madalena ist das Sinnbild der Menschlichkeit Jesus offenbart. Erotisch zugleich subtil. Petite Madeleine eingetaucht in den Lindenblütetee zuckte M.P. zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in ihm vollzog.
So begann Balthasar mit seinem spannenden Vortrag. Ich sah ein Fenster, der mir eine Welt offenbar, etwas Fremdes und Unerwartes stattfinden kann…

Aus dem Fenster schaute ich hinaus. Der Zug fuhr rasch an Olten vorbei. Die schöne Burg dieses Ortes war verdeckt von der Dunkelheit. Ich sah nur eine Bahnhofinsel zwischen dem Flüsse der Gleise. Wo war ich denn? Ich schaute durch Fenster hinaus, traf mich selbst.

Die Menschen, die mich jetzt kennen lernen, lernen mich an einem Punkt kennen. Menschen, die mich und das Blog begleiten, lernen mich aus einem Abschnitt. Menschen, die mich als Kind lernen… sie erkennen mich vielleicht nicht wieder.
Wer bin ich denn? Wie kann ich mich definieren aus einem Zeitpunkt? Ich versuchte mich zu errinnern. Wie war ich denn? Wo war ich, als ich Tee begegnete?
Ich sah meinen Großvater auf seinem Schaukelstuhl vor dem chinesisch sprechenden Fernseher. Dunkel, einsam und vergessen. Er sagte zu mir, „Das ist Tie Guanyin.“ Ich drehte meinen Kopf weg. Ein Geschmack eines alten Mannes!
Ich war in England. Ich war frisch verliebt. Mein Vater trennte mich von meinem Revoluzzer-Freund, ein Medizinstudent. Er schrieb mir fast jeden Tag einen schönen Brief nach London. Ich brachte ihm voller Begeisterung Tetley Earl Gray! Ich liebte den Geschmack des Englands.
Ich erinnerte mich weiter. Der Zug fuhr eilig. Nur dunkle Schatten prägten die Ahnung der Landschaft. Was ist dann noch bei mir geblieben?
Es war im Kloster nahe zu Brüssel. Ich traf zum ersten Mal Chanoyu mit Michiko-Sensei. Ein überwältigendes Glücksgefühlt durchströmte mich. Woher kam es? ich konnte es nicht fassen! Ich wiederholte die Bewegung und glaubte, dass ich sie bereits im Traum oder an einem falschen Ort bereits tausenden Male getätigt hätte!! Endlich bin ich wieder da. Ich lernte die Bewegungen und plötzlich bin ich sie. Ich bin endlich wieder da!
Ich sah die Schatten des Lichtes, das mich traf. Ich hatte eine Ahnung von Freiheit und beschloss nach ihr zu gehen. Ich sah das schmerzhaften Korsett meiner Erziehung, meiner Herkunft und meiner vermeintlichen Sicherheit – und den Mann, den ich nach all diesen Schemata ausgesucht habe. Ich beschloss dem Schatten des Lichtes zu folgen. In diesem Schatten lerne ich mich selbst kennen.
Was war der Geschmack des Tees, der mich zu dem jetzigen ICH bewegte? Ich suchte vergeblich in diesem dunklen Zugfenster. Nur einen herben Geschmack zog meinen Mund zusammen.
Es war ein Samstagsnachmittag. Ich bereitete einen Oolong. Damals spielte der Name des Tees noch gar keine Rolle. Für mich war der Tee Oolong. Ach, es war 1999! Dieser Jinxuan, den ich zubereitete, war bereits leicht alt. Er war herb. Michel rünfte seine Nase. Ich spürte den herben Muskel des Tees, aber auch die Düfte, die auf der Zunge blieben. Es war Osmanthus und Longgan. Ich konnte diese herben und duftende Verschmelzung nicht vergessen und verstehen. Ich glaubte dort jemanden kennen gelernt zu haben, der sehr schöne blauen Augen hatten, die ganzer Zeit fixiert waren auf meine Hände. Diese Augen begleiteten mich Jahren bis ein Punkt kam.
Ich möchte nicht vergessen, wie ich einst vom Tee bewegt wurde. Ich möchte es immer in mir behalten. Ansonsten bin ich tatsächlich nur ein Punkt, anstatt ein Leben.
Der Zug fuhr in Zürich ein. Und er fuhr weiter, weiter an die Grenze, vielleicht hinaus.

3 Gedanken zu „Die Zugfahrt

  1. Hildegard

    Wie ermutigend dass auch andere nicht als Teekenner geboren werden, sondern stetig dazu lernen.Dass auch Mengelin vor nicht unglaublich langer Zeit einfach einen Olong zubereitete und ihn geniessen konnte, dort eine Insel fand, ist wunderbar. Auch ich habe meine Teeinseln, bin aber Anfänger und trotzdem Geniesser.

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